Islam Alijaj über sein Leben mit Zerebralparese

Unter Zerebralparese werden Schädigungen des Gehirns mit einer Vielzahl an lebenslangen Symptomen zusammengefasst, die auf einen Sauerstoffmangel während der Geburt zurückzuführen sind. In der Schweiz leben rund 3.000 Kinder und 12.000 Erwachsene mit Zerebralparese. Islam Alijaj ist betroffen und war im Sommer 2023 für drei Wochen zur Rehabilitation im Rehazentrum Valens, wo wir mit ihm über seine gut sicht- und hörbare Behinderung sprechen durften.

Lieber Herr Alijaj, das Ausmass der Zerebralparese reicht von leichter Muskelsteifheit bis hin zu starken körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen. Wie zeigt sich die Zerebralparese bei Ihnen?
Ich bin seit meiner Kindheit in meiner Mobilität eingeschränkt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Rollstuhl ist für mich eine Hassliebe, denn früher habe ich ihn als Symbol für meine Behinderung gesehen, während ich ihn heute als Hilfsmittel wahrnehme, das mir Mobilität gibt. In der Pubertät wollte ich den Rollstuhl unbedingt loswerden und habe hart trainiert. Tatsächlich gelang es mir, mich ohne Rollstuhl selbstständig fortzubewegen, wenn auch verlangsamt und nicht sehr stabil. Das war für mich ein grosses Erfolgserlebnis. Die Muskelsteifheit, die mit der Zerebralparese einhergeht, betrifft auch meine Zunge. Deshalb habe ich neben der Spastik auch eine Sprachbehinderung, die langes Sprechen für mich sehr anstrengend macht. Früher habe ich mich wegen meiner Sprachbehinderung oft geschämt zu sprechen und redete so wenig wie möglich – heute scheue ich es nicht mehr, mich mitzuteilen. Kognitive Beeinträchtigungen habe ich glücklicherweise keine.

Ihre Kindheit und Jugendzeit war also nicht einfach, so wie Sie das beschreiben?
Das kann man auf jeden Fall so sagen. Ich ging zusammen mit lernschwachen Kindern in eine Sonderschule, wo ich nicht gefördert wurde, obwohl ich keine kognitive Beeinträchtigung habe. Integrative Schulklassen, wie man sie heute kennt, gab es damals noch nicht. Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte ich bei der Brunau-Stiftung eine KV-Ausbildung, obwohl ich lieber an die Universität gegangen wäre, um Wirtschaft zu studieren. Ich schloss die Anlehre mit der Note 5.2 ab und später erwarb ich das eidgenössische Fähigkeitszeugnis. Trotzdem glaubten weder die Stiftung noch die Invalidenversicherung daran, dass ich eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt hätte. In der Berufsschule war ich zumindest das erste Mal Teil einer «normalen» Schulklasse – ich habe es geliebt. Ich war im positiven Sinne das Maskottchen der Klasse und viele wollten Gruppenarbeiten mit mir machen, weil sie wussten, dass ich zielstrebig und zuverlässig arbeite. Bevor ich in den Zürcher Gemeinderat gewählt wurde, habe ich verschiedene Weiterbildungen in Webentwicklung besucht und mich im Selbststudium intensiv mit dem Behindertenrecht befasst.

Was sind im Alltag die Herausforderungen mit Ihrer Behinderung und wie gehen Sie damit um?
Die grösste Barriere für mich ist das Denken anderer Menschen. Aber ich habe gelernt, proaktiv auf Menschen zuzugehen und so das Eis zu brechen. Dadurch kann ich viele Vorurteile abbauen, nicht zuletzt auch durch meine Ausstrahlung und mein Auftreten. Um mit meiner Behinderung so umgehen zu können, wie ich es heute kann, musste ich viele Jahre kämpfen – mit mir selbst und gegen die Herausforderungen, die sich mir im Alltag stellen. Ich wünsche mir für Menschen mit Behinderungen, dass sie nicht die Rückstände unseres Systems aufholen müssen, sondern dass Rahmenbedingungen vorherrschen, die Behinderungen egalisieren.

Trotz oder gerade wegen Ihrer Behinderung sind Sie sehr engagiert, persönlich und politisch. Woraus schöpfen Sie diese Kraft?
Mein Umfeld gibt mir viel Kraft, vor allem meine Familie, meine Frau und meine Kinder. Sie nehmen mich so, wie ich bin, und sehen mich nicht als behindert an, sondern motivieren mich, das Beste aus mir zu machen. Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, in der ihr Vater als minderwertig angesehen wird. Dafür setze ich mich ein und die Politik ist ein wichtiges Mittel, um entsprechende Veränderungen herbeizuführen.

Sie sind bereits zum wiederholten Mal im Rehazentrum Valens zur Rehabilitation. Wie haben Sie die Reha hier erlebt und was nehmen Sie mit?
Der Reha-Aufenthalt hat mir sehr gut getan. Es hat mich motiviert zu sehen, wie ich durch intensives Training mit Physiotherapie, Ergotherapie und robotergestützter Therapie meine körperliche Verfassung deutlich verbessern kann. Aber natürlich ist das Training im Alltag genauso wichtig, um die erzielten Erfolge zu erhalten. Ich weiss ja aus meiner Jugend, wie positiv sich tägliches Training auf meinen körperlichen Zustand auswirkt. Die Therapeutinnen und Therapeuten in Valens haben Freude an ihrer Arbeit und es herrscht eine positive Atmosphäre, was das anstrengende Reha-Programm erleichtert – und nicht zu vergessen: Das Essen im Restaurant Zanai ist einfach hervorragend (lacht).

 

Dieser Beitrag erschien in unserem Voilà-Magazin.